Meeresnaturschutzgebiete massiv geschädigt: Umweltschutzorganisationen reichen rechtliche Beschwerde bei EU-Kommission gegen Deutschland, Frankreich und Italien ein
Deutschland, Frankreich und Italien brechen systematisch europäisches Umweltrecht, indem sie zerstörerische Grundschleppnetzfischerei in Meeresschutzgebieten zulassen
15 europäische Naturschutzgebiete betroffen – darunter vier Schutzgebiete vor den Küsten Schleswig-Holsteins, Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns
Steigender Druck vor UN-Meereskonferenz in Nizza: Umweltschutzorganisationen fordern EU-Kommission mit Beschwerde auf, Vertragsverletzungsverfahren gegen die Mitgliedsstaaten einzuleiten und Verstöße vor Europäischen Gerichtshof zu bringen
Brüssel, 29.4.2025: Eine Koalition aus Umweltschutzorganisationen, darunter die Environmental Justice Foundation (EJF), Blue Marine Foundation, ClientEarth, Défense des Milieux Aquatiques (DMA) und die Deutsche Umwelthilfe (DUH) haben heute bei der Europäischen Kommission eine Beschwerde gegen Deutschland, Frankreich und Italien eingereicht. Nach Ansicht der Organisationen verstoßen die drei EU-Mitgliedstaaten schwerwiegend und systematisch gegen europäisches Umweltrecht, indem sie es versäumen, empfindliche marine Ökosysteme effektiv zu schützen und Grundschleppnetzfischerei in Meeresschutzgebieten nicht verbieten. Die Umweltschutzorganisationen fordern die Europäische Kommission auf, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten und die aufgeführten Fälle vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu bringen.
Obwohl EU-Umweltschutzgesetze – darunter die Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) – eigentlich dem Schutz mariner Arten und Lebensräume dienen sollen, sieht die Realität anders aus: In ganz Europa erlauben Regierungen weiterhin zerstörerische Fischereimethoden in Meeresschutzgebieten, insbesondere die Grundschleppnetzfischerei. Diese schleift den Meeresboden großflächig ab und zerstört dabei empfindliche Lebensräume. Das Ausmaß ist alarmierend: In 85 Prozent der deutschen, 77 Prozent der französischen und 44 Prozent der italienischen Natura-2000-Gebiete im Meer findet weiterhin Grundschleppnetzfischerei statt – obwohl diese Gebiete eigentlich Rückzugsräume für Flora und Fauna sein sollen.
Die gemeinsame Beschwerde konzentriert sich auf 15 marine Natura-2000-Gebiete, in denen industrielle Grundschleppnetzfischerei weiterhin ungehindert betrieben wird – mit verheerenden Folgen für empfindliche Lebensräume wie Riffe, Seegraswiesen und Sandbänke. In mehreren Ländern laufen bereits nationale Klageverfahren wegen anhaltender Grundschleppnetzfischerei – obwohl klare rechtliche Verpflichtungen nach der FFH-Richtlinie und weiteren EU-Vorgaben bestehen.
Marie Colombier, Senior Ocean Campaigner bei EJF: „Wir fordern die Europäische Kommission auf, entschlossen und unverzüglich zu handeln: Leiten Sie ein Vertragsverletzungsverfahren ein, setzen Sie EU-Recht durch und beweisen Sie, dass der derzeit entwickelte ‚Ocean Pact‘ mehr ist als nur ein leeres Versprechen. Diese rechtlichen Verpflichtungen sind kein Wunschkonzert. Wenn wir sie nicht durchsetzen, bedeutet dies die Zerstörung unserer Meeresfauna, der Gesundheit unserer Ozeane und der Zukunft der Küstenfischerei in ganz Europa.“
Svane Bender, Leiterin Naturschutz bei der DUH: „Grundschleppnetzfischerei beschädigt das fragile Ökosystem des Wattenmeeres – in klarem Widerspruch zum offiziellen Schutzstatus. Deutsche Behörden haben bereits im vergangenen Jahr bestätigt, dass Grundschleppnetzfischerei die größte Beeinträchtigung für marine Lebensräume in der Nordsee ist – handeln aber nicht entsprechend. Auch in der Ostsee hat diese Methode wesentlich zum Zusammenbruch kommerzieller Fischbestände beigetragen und findet nach wie vor statt. Das behindert die Erholung von Natur und der lokalen Fischerei gleichermaßen.“
Philippe Garcia, Präsident von DMA: „Obwohl die entsprechenden Gesetze seit 1992 gelten, befinden sich 90 Prozent der marinen Schutzarten und -lebensräume in Frankreich aufgrund der fehlenden Umsetzung dieser weiterhin in schlechtem Zustand. Es ist offensichtlich, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichen. Die Behörden müssen jetzt dringend und konkret handeln, um den fortschreitenden Verlust von Biodiversität und Produktivität in der Fischerei zu stoppen.“
Dr. Giulia Bernardi, Senior Italy Projects Manager bei Blue Marine Foundation: „Es ist höchste Zeit, unseren Meeresschutzgebieten eine echte Chance zur Erholung zu geben. Grundschleppnetzfischerei ist mit geltendem Recht unvereinbar – wir brauchen dringend Klarheit und die konsequente Umsetzung durch die italienischen Behörden. Das schützt die biologische Vielfalt und ermöglicht gerade kleinen Fischereibetrieben, langfristig von der Erholung dieser entscheidenden Lebensräume zu profitieren.“
Link:
Weitere Informationen zur gemeinsamen Beschwerde, den beteiligten Umweltschutzorganisationen und die englische Pressemitteilung finden Sie hier: https://ejfoundation.org/news-media/eu-faces-legal-complaint-as-france-germany-italy-leave-protected-marine-areas-open-to-destruction
Kontakt:
Environmental Justice Foundation: mateo.vigne@ejfoundation.org
Défense des Milieux Aquatiques (DMA) : maigre42@gmail.com
Blue Marine Foundation: media@bluemarinefoundation.com
ClientEarth: ARivalier@clientearth.org
Kanzlei Huglo Lepage Avocats: raphaelle.jeannel@huglo-lepage.com
Deutsche Umwelthilfe e.V:
Svane Bender, DUH-Leiterin für Naturschutz und Biologische Vielfalt
0151 70534254, bender@duh.de
DUH-Newsroom:
030 2400867-20, presse@duh.de
Hinweise für Redaktionen
In Deutschlands Natura-2000-Gebiet „NTP S-H Wattenmeer und angrenzende Küstengebiete“ wurden zwischen 2020 und 2024 jährlich über 32.800 Stunden Grundschleppnetzfischerei auf geschützten Lebensräumen registriert – darunter auch auf geschützten Sandbänken.
Im französischen Gebiet „Baie de Seine Occidentale“ fanden 9.016 Stunden Schleppnetzfischerei auf geschützten Lebensräumen statt, davon 8.793 Stunden gezielt auf Sandbänken.
Im italienischen Schutzgebiet „Tutela del Tursiops truncatus“, das dem Erhalt mariner Arten und Bodenlebensräume dient, wurden jährlich 11.923 Stunden Schleppnetzfischerei dokumentiert.
Die an die Europäische Kommission übermittelte Beschwerde fordert die vollumfängliche Umsetzung der FFH-Richtlinie, insbesondere durch eine Regulierung der Grundschleppnetzfischerei in marinen Natura-2000-Gebieten. Die NGOs argumentieren, dass diese Fischereipraxis geschützte Lebensräume und Arten des Meeresbodens bedroht – und damit sowohl gegen nationales als auch gegen EU-Recht verstößt.
Spezifisch belegt die Beschwerde systematisches Versagen bei der Umsetzung der Artikel 6(1), 6(2) und 6(3) der FFH-Richtlinie.
Zwar hebt die Beschwerde 15 spezifische Schutzgebiete hervor, das Problem ist jedoch deutlich umfassender: Grundschleppnetzfischerei findet in 77 % der französischen, 85 % der deutschen und 44 % der italienischen marinen Natura-2000-Gebiete statt. Insgesamt werden laut Daten über 1,7 Millionen Stunden zerstörerischer Fischerei jährlich in EU-Meeresschutzgebieten durchgeführt. Bereits 79 % des Küstenmeeresbodens in EU-Gewässern gelten als physisch gestört, vor allem durch Grundschleppnetzfischerei – und in rund einem Viertel der EU-Küstengewässer sind funktionale Meeresbodenlebensräume vermutlich verloren gegangen.
Die Berechnungen zum Fischereidruck stammen von der Environmental Justice Foundation (EJF), die Daten von Global Fishing Watch (2020–2024) nutzte, diese in QGIS verarbeitete und die endgültigen Auswertungen in R Studio vornahm.
Die Beschwerde unterstützt die Ziele der EU-Biodiversitätsstrategie 2030 und des Globalen Biodiversitätsrahmens von Kunming-Montreal, die den Schutz von 30 % der EU-Meere bis 2030 fordern. Sie fordert zudem, dass Frankreich, Deutschland und Italien den Vorgaben des EU-Aktionsplans für die Meere nachkommen, der die Beendigung der mobilen Grundfischerei in allen Natura-2000-Gebieten mit Schutz des Meeresbodens bis März 2024 und den vollständigen Ausstieg aus dieser Methode in allen Meeresschutzgebieten bis 2030 vorsieht.
Die Europäische Kommission muss innerhalb eines Jahres auf die Beschwerde reagieren. Sie kann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die betroffenen Mitgliedstaaten einleiten oder die Beschwerde abschließen.
Diese Einreichung folgt auf frühere rechtliche Schritte von EJF und DMA gegen die französische Regierung (Februar 2025, mit Unterstützung der Kanzlei Huglo Lepage), sowie ähnliche Verfahren von ClientEarth in Deutschland, den Niederlanden und Spanien.
Diese Beschwerde wurde mit Unterstützung der Kanzlei Huglo Lepage und mit zusätzlicher Pro-bono-Unterstützung entwickelt, die über TrustLaw – das globale Pro-bono-Netzwerk der Thomson Reuters Foundation – koordiniert wurde. Die rechtliche Ausarbeitung wurde dabei unter anderem von den Kanzleien Hogan Lovells, Squire Patton Boggs LLP sowie weiteren Partnern übernommen, welche anonym bleiben möchten.
Über die beteiligten Organisationen
Environmental Justice Foundation (EJF)
Unsere Arbeit für Umweltgerechtigkeit hat das Ziel, unser globales Klima, unsere Ozeane, Wälder, Feuchtgebiete und Wildtiere zu schützen und das grundlegende Menschenrecht auf eine sichere natürliche Umwelt zu verteidigen da alle anderen Menschenrechte von diesem abhängen. EJF arbeitet international daran, Entscheidungsträger zu informieren und systemische, dauerhafte Reformen zum Schutz unserer Umwelt und zur Verteidigung der Menschenrechte voranzutreiben. Wir untersuchen und decken Missbräuche auf und unterstützen Umweltaktivisten, indigene Völker, Gemeinden und unabhängige Journalisten, die an vorderster Front gegen Umweltungerechtigkeit kämpfen. Unsere Kampagnen zielen auf eine friedliche, gerechte und nachhaltige Zukunft ab. Unsere Ermittler, Forscher, Filmemacher und Aktivisten arbeiten mit Graswurzelbewegungen und Umweltschützern auf der ganzen Welt zusammen. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an media@ejfoundation.org
Défense des Milieux Aquatiques (DMA)
DMA konzentriert sich vorrangig auf juristische Schritte vor französischen Verwaltungsgerichten, um den Druck auf aquatische Ökosysteme zu verringern. Wir kämpfen insbesondere gegen die Übernutzung dieser Lebensräume – etwa bei Wanderfischarten wie Lachs, Maifisch, Neunauge oder Aal, gegen Grundschleppnetzfischerei, die Umleitung von Wasserläufen und Eingriffe in Lebensräume ziehender Vogelarten.
DMA hat erfolgreich erreicht, dass die Grundschleppnetzsaison in der Dreimeilenzone vor Arcachon von 12 auf 5 Monate verkürzt und später ganz aus Schutzgebieten entlang dieser Küsten ausgeschlossen wurde.
Ziel ist es, dieses Momentum zu nutzen, um alle Meeresschutzgebiete – und die gesamte Dreimeilenzone – dauerhaft zu sichern. Unser zentrales Vorhaben, das sogenannte „Golden Miles“-Projekt, strebt an, diese Zone vollständig von nicht-selektiven Fanggeräten (insbesondere Netzen) zu befreien – wie es in den USA und anderen Ländern bereits seit Jahrzehnten Realität ist. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: maigre42@gmail.com
Blue Marine Foundation
Die Blue Marine Foundation ist eine britische Meeresschutzorganisation, die 2010 von einem Teil des Teams hinter dem preisgekrönten Dokumentarfilm The End of the Line gegründet wurde.
Blue Marine widmet sich der Bekämpfung der Überfischung – einem der gravierendsten Umweltprobleme unserer Zeit – und setzt auf den Schutz mariner Lebensräume zur Wiederbelebung der Ozeane. Die Mission der Organisation ist der wirksame Schutz 30 % der Ozeane bis 2030 und ein nachhaltiges Management unseres gesamten Ozeans. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: media@bluemarinefoundation.com
Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH)
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) ist ein unabhängiger, gemeinnütziger Verein mit Klagebefugnis , welcher sich seit seiner Gründung 1975 auf nationaler wie auf europäischer Ebene nationaler und europäischer Ebene für Umwelt- und Verbraucherschutz engagiert.
Die DUH setzt sich für alle Formen nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens ein, die die ökologischen Grenzen unseres Planeten respektieren. Gleichzeitig kämpft sie für den Schutz der biologischen Vielfalt, unserer natürlichen Lebensgrundlagen und des Klimas.
Das DUH-Meeresteam setzt sich für den Schutz unseres Ozeans ein, gegen Überfischung, für eine naturverträgliche Offshore-Windenergieentwicklung eine nachhaltige Meeresraumplanung. Gemeinsam mit unseren Partnern in Europa kämpfen wir für lebendige und widerstandsfähige Meere – in Deutschland und darüber hinaus. Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: presse@duh.de
ClientEarth
ClientEarth ist eine gemeinnützige Umweltrechtsorganisation, die mit rechtlichen Mitteln systemische Veränderungen zum Schutz unseres Planeten durchsetzt – für und mit den Menschen, die ihn bewohnen.
Wir kämpfen gegen die Klimakrise, schützen die Natur und bekämpfen Umweltverschmutzung – gemeinsam mit Bürger*innen, Behörden und Partnern weltweit. Wir machen Regierungen und Unternehmen rechtlich verantwortlich und setzen uns für das Recht auf eine gesunde Umwelt ein.
Von unseren Standorten in Europa, Asien und den USA, gestalten und verteidigen wir das Recht zum Schutz unserer Umwelt – für eine Zukunft, in der Menschen und Natur gemeinsam gedeihen können.
Kanzlei Huglo Lepage Avocats
Huglo Lepage Avocats (HLA) unterstützt zivilgesellschaftliche Organisationen, Unternehmen und öffentliche Institutionen bei der Bewahrung natürlicher Lebensräume und dem Schutz gefährdeter Arten. Die Kanzlei ist spezialisiert auf Umweltgenehmigungen, den rechtlichen Schutz der Biodiversität – etwa im Zusammenhang mit Natura-2000-Gebieten oder Ausnahmen für geschützte Arten sowie auf Biodiversitätsaktionspläne.
Darüber hinaus beraten wir unsere Klienten in Fragen der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen (Wasser, Luft, Boden), prüft die Einhaltung rechtlicher Vorgaben und entwickelt Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung.
Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an: raphaelle.jeannel@huglo-lepage.com